Traumbewusstsein

(von Matthias Govinda)

Was hat das Thema “Träume” im Kontext von Tantra zu suchen? Nun, wenn ein Aspekt des Tantra ist, das Leben in allen Facetten zu leben - warum sparen wir dann etwa ein Drittel unseres Lebens aus diesem Gesamtkontext unseres Lebens aus? Immerhin verbringen wir etwa ein Drittel unserer Zeit im Schlaf und davon die meiste Zeit träumend. Das sind in einem Abschnitt von10 Jahren unseres Lebens etwa drei komplette Jahre. Und wenn Du 50 bist hast Du immerhin schon 15 Jahre Deiner Zeit im Traumbewusstsein verbracht. Es ist Zeit darüber nachzudenken, diese Zeit möglicherweise in Deine bewusst gelebte Zeit zu integrieren!

Wenn ich den Begriff “Traumbewusstsein” gebrauche deute ich damit schon an, dass für mich der Traum ein bestimmter Bewusstseinszustand ist. In den vergangenen Jahren habe ich mich nach vielen verschenkten (sprich unbewussten) Traumjahren meines Lebens dem Traum bewusst zugewandt und dabei für mich umwerfende Entdeckungen gemacht. Inzwischen erscheint mir die von manchen psychologischen Richtungen vertretene These, der Traum wäre allein als eine Kompensation der Alltagsrealität zu verstehen, als eine Verkennung des Traumpotentials. Ich habe gleichzeitig immer mehr erkannt, dass meine Alltagsrealität nur eine von verschiedenen Realitätsebenen ist, in der ich mich einigermassen auskenne, die aber letztendlich nicht realer ist als eine Traumrealität. Weiterhin habe ich erfahren, dass ein bewusstes Wahrnehmen und gestaltendes Eingeifen in meine Traumrealitäten -ja, es gibt mehr als eine!- erhebliche Auswirkungen auf mein Dasein in der Wachrealität hat. Die Realitätsebenen beeinflussen sich gegenseitig ...

Bei meinen persönlichen Forschungen hat mir in erster Linie der verstorbene Traumforscher Paul Tholey wertvolle Anregungen gegeben. Seine Einführungen in verschiedene Techniken des Klarträumens sind für mich Ausgangspunkt gewesen, den Traum in meinen Alltag zu integrieren, indem der Traum ein immer mehr bewusst wahrgenommener Teil meines Alltags wurde. Das spezielle Forschungsgebiet Tholeys ist das Klarträumen. Dabei werde ich mir im Traum bewusst, dass ich mich in einem Traum befinde. Da in der Traumrealität einiges anders funktioniert als in der Wachrealität, kann ich mich selber als aktive Traumfigur meines eigenen Traums wahrnehmen und mich durch den Bedingungsrahmen der Traumrealität z.B. Herausforderungen stellen, denen ich in der Wachrealität (noch) nicht gewachsen bin.

Tholeys wissenschaftliche Untersuchungen zeigen auf, dass durch bewusste Aufgaben, die sich jemand vor dem Eintreten in eine der Traumrealitäten stellt, nachweisbare Veränderungen in der Wachrealität erzielt werden können. Ein einfaches Beispiel: Spitzensportler können sich vor einem Wettkampf im Traum detalliert auf ihren Wettkampf vorbereiten und bestimmte Übungsabläufe in einer Form trainieren, die im Wachzustand nicht möglich wäre. Dies geht weit über das bekannte Visualisieren einer Situation hinaus - was die Vorbereitung selber als auch den Effekt selbiger betrifft.

Dabei muss ich allerdings zugeben, dass es nicht ganz so einfach ist, “klar” zu träumen, wie Tholey es in seinem Buch beschreibt. Aber vielleicht bin ich nur ein schwieriger Fall und anderen fällt es möglicherweise leichter.

Es muss auch nicht unbedingt Klarträumen sein, was die Beschäftigung mit dem Traumerleben zu einem spannenden Faktor des eigenen Lebens werden lassen kann. Einen wesentlichen Aspekt der Traumrealität(en) erkennen alle Traumforscher an: Wichtige Kontrollfunktionen, die in der Alltagsrealität eigene Muster weder erkennbar noch bewusst werden lassen, fallen im Traum weg. In diesem Sinne hat der Traum viele Paralellen zu Bewusstseinszuständen unter dem Einfluss von Drogen. Wobei für Träume und für Drogen gilt - ohne eine Verbindung zur Wachrealität verpufft das in diesen Zuständen vorhandene Potential im Nichts.

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle eine weitere Praxis genannt, die uns ebenso wie Träume und Drogen -beides bewusst angewandt- neue Territorien unseres Seins erschliessen kann: das ist Meditation. Meditation, bewusste Traumarbeit und eine bewusste Anwendung von Drogen führen mit entsprechender Übung in ähnliche Bereiche eines erweiterten Zustands der eigenen Bewusstheit.

Tantra ist ganzheitliche Bewusstheit, ein Erwachen aus dem Dämmerzustand der Unklarheiten und des Nebels, der weite Bereiche unseres Lebens umhüllt. In diesem klärenden Prozess des Betrachtens der eigenen Realität führt kein Weg an einer bewussten Beschäftigung mit Träumen vorbei.

Literatur:
Paul Tholey, Kaleb Utecht: Schöpferisch Träumen (Klotz Verlag, Eschborn)
Ann Faraday: Deine Träume - Schlüssel zur Selbsterkenntnis (Fischer Verlag, Frankfurt)

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